Unsere Kinos
Was kann in 50 Jahren nicht alles geschehen ? Politische Systeme kommen und gehen, Regierungen geben sich die Klinke in die Hand. Die wirtschaftliche Lage ist mal besser, mal schlechter. Mode und Geschmack ändern sich. Doch in diesem Auf und Ab der Geschichte gibt es auch Konstanten. Da ist zum Beispiel der Drang des Menschen nach Kurzweil und Unterhaltung. Ein paar Stunden raus aus dem Alltag, abschalten, entspannen, Luft holen.
Das ist heute so und das war auch vor gut 90 Jahren nicht anders, als im damals noch selbstständigen Sprendlingen Philipp Ebert in jener Zeit Pioniergeist und Mut bewies. Gemeinsam mit seiner Frau Katharina hatte der Sprendlinger Elektriker im Jahr 1920 das “Viktoria- Theater” an der Offenbacher Straße eröffnet. In der Lichtspiel- Stätte konnten die Sprendlinger die Unbillen der krisengeschüttelten Weimarer Zeit vergessen, konnten sich bei Stummfilmen mit Klavierbegleitung von den politischen Debatten ablenken und in fremde Welten entführen lassen. “Heißa, Viktoria” überstand Eberts Kino mit seinen rund 250 Sitzplätzen und einem Balkon auch den zweiten Weltkrieg. In seinen Mauern scherzten Heinz Rühmann und Hans Albers, gaben sich Anny Ondra, Zarah Leander und all die anderen Stars und Sternchen der Zeit ein munteres Stelldichein. Ausländische Kollegen, sieht man einmal von Marikka Röck und anderen opportunen Zeitgenossen ab, suchte das Publikum in den 30er und 40er allerdings nicht nur in Sprendlingen vergebens. Das änderte sich aber ! Sie kamen wieder: die Größen aus Hollywood und anderen cineastischen Gefilden. Nachdem Charlie Chaplin sowie Dick und Doof das Kinopublikum mit Lachsalven die schwere Vergangenheit vergessen ließen, versprühte Clarke Gable in “Vom Winde verweht” seinen umwerfenden Charme.
Jetzt begann, so sagt Brigitte Kreisel, die Enkelin Eberts und heutige Inhaberin der Lichtspielhäuser, die große Zeit des Kinos, die ganz Große. Anno 1952 folgte die zweite Pioniertat des Großvaters. Er, welcher die Technik betreute, während die Gattin für den Kartenverkauf und all die anderen organisatorischen Dinge verantwortlich zeichnete, eröffnete in einigen 100m Luftlinie, am Ostersamstag des Jahres 1952, ein weiteres Lichtspielhaus, das Rex. Für Eberts ein zweites Standbein, für Filmliebhaber eine zweite Anlaufstelle mit sogar 375 Plätzen und ebenfalls einem gemütlichen Balkon. Während sich Sonja Ziemann und Rudolf Prack auf der grünen Heide tummelten oder der Förster vom Silberwald durch den Wald flitzte, bemühten sich in den Sprendlinger Kinos Garderobiere, Platzanweiserin und Eisverkäuferin um ein Rundum- Erlebnis für die Gäste, denen neben dem Hauptfilm täglich die Wochenschau serviert wurde. Es entstanden Monumentalfilme wie “Das Gewand”, “Spartacus“ und “Ben Hur“. Bei Gary Cooper und Grace Kelly klingelte es „12 Uhr mittags“ Marylin Monroe hatte ihren großen Auftritt in „Fluß ohne Widerkehr“. 1959 erregte „Die Fliege“ die Gemüter und der Deutsche Film schwelgte mit prunkvollen Ausstattungen in „Der Tiger von Eschnapur“.
Im Jahr 1961, übernahmen Brigitte Kreisels Mutter Erna, geb. Ebert, und ihr Vater Adolf Kreisel, ein stadtbekannter Lehrer („morgens Schule, mittags Kino“) die beiden Kinos. Der erste Science- Fiction Streifen „Planet der Affen“ entstand. James Dean wurde zum Idol der Jugend in den Siebzigern und Marlon Brando paßte damals noch in eine „Schlangenhautjacke“. 1962 trat zum ersten Mal James Bond in Aktion, welcher nun - Ende 2002 - sein zwanzigstes Filmabenteuer besteht.
In den Achtzigern sorgte ein Franzose namens Louis de Funés für die großen Lacher im Kino und Terence Hill und Bud Spencer schlugen auf der Leinwand alles kurz und klein. Auch Superstar Mel Gibson machte seine ersten Gehversuche in „Mad Max“. 1982 erfuhr das „Viktoria“ eine Runderneuerung, die Bestuhlung wurde zugunsten der Beinfreiheit auf 100 Sitze reduziert der Balkon wich einer gemütlichen Kinobar. Ebenso wurden Filmprojektoren und Ton erneuert. Dem oft flackernden Kohlelicht folgte das ruhige, helle Xenonlicht und der Ton erklang nun in Stereo. Jetzt konnte „Dirty Harry“ kräftig ballern. „Batman” flog das erste Mal über die Leinwand und Filme wie “Walt Disney´s Dschungelbuch“, „Papillon“, „Felix Krull“ und „Pretty Woman“ lockten auch die etwas ältere Generation hinter dem Fernseher hervor wieder ins Kino.
Seit 1993 sind die nostalgischen Charme versprühenden Häuser in den Händen der heutigen Inhaberin. Frau Kreisel ist es zu verdanken, dass die beiden Lichtspielhäuser heute auf dem neuesten Stand der Bild- und Tontechnik sind. Im Jahr 2012 hielt - auch dank der tatkräftige Unterstützung von ihrem Sohn Stephan - die digitale Filmtechnik in Dreieich Einzug und bringt seitdem auch Filme in 3D auf die Leinwand.
In dem Wissen, zu den wenigen, noch bestehenden Unternehmen dieser Branche zu gehören ist es Frau Kreisel, die mit Engagement und Liebe zum Erbe des Großvaters Woche für Woche den Multiplexen im Ballungsraum Rhein- Main die Stirn bietet und somit ihrem Sohn, mittlerweile der vierten Generation im Hause, den Weg öffnet.